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Zur Einführung sprach Nadia Ismail, Kunstmuseum Mülheim.

Betritt man die Räumlichkeiten des Kunstvereins Mönchengladbach, umfängt einen eisige Stille. Kälte macht sich leise auf der Haut bemerkbar und kriecht langsam die Beine hinauf. Magisch wird das Auge von der hellen Projektion angezogen, die einen Halt inmitten der nahezu völligen Dunkelheit des Raumes verheißt. Langsame, seltsam ruckhafte Bilderfolgen von Blätterstrukturen bewegen sich auf einer fragilen durchsichtigen Glasoberfläche. Stück für Stück ertastet das Auge die Umgebung, bis durch die Projektion hindurch der schemenhafte Umriss einer großen Skulptur mit ihrer an erkaltete Lava erinnernden, zerklüfteten Oberfläche sich immer deutlicher von dem schwarzen Umraum löst. Was im ersten Augenblick in einem starken Kontrast zu der luziden Oberfläche der Videoprojektion steht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Verschmelzung zweier disparater Elemente, die sich zugleich einander bedingen. Diese „Videoskulptur“ ohne Titel offenbart noch einmal die Kraft des Lichtes, welches in Form von hellen Spieglungen auf der tiefschwarzen Oberfläche tanzende Reflexe wirft. Die Graunuancen der Blätter, deren Spektrum von silbrig-grün bis bräunlich-weiß reicht, entlocken dem toten Gestein eine lebendige Tiefe. Die schwere, monolithische Skulptur scheint zum Leben erweckt, ja beweglich geworden. Offen platzierte Technik entmystifiziert keineswegs die Aura aus Kälte, Verlassenheit und dem Gefühl „ganz bei sich“ zu sein. Vielmehr fügen sich alle Elemente zu einem Gesamtkunstwerk, in dem die Örtlichkeit ebenfalls Teil der Inszenierung ist. Schrudde sieht und agiert mit dem Blick der Bildhauerin; er stellt den Ausgangspunkt all ihrer visuellen Überlegungen dar.

Nicola Schrudde greift auf sensible Weise den Rhythmus der Elemente mit seinem Wechsel von Licht und Schatten, Tag und Nacht, Regen und Sonnschein auf. Mit ihrer Kleinbildkamera geht sie auf Reisen und fängt die facettenreiche Schönheit der Natur ein. Ohne Stativ fixiert sie kurze Momente der Realität, hält Augenblicke des Werdens und Vergehens fest. Close-ups offenbaren poetische Blattformationen, auf denen der Tau in der Sonne funkelt. Mit ihren Aufnahmen durchbricht sie „die Trennung zwischen gegenständlicher Realität und der eigenen, inneren Gegenwart“. Die Abbildungen erzählen vom Reisen, von anderen Orten, von persönlichen Erinnerungen der Künstlerin und nicht zuletzt von den Mysterien der Natur, die sie in die Ausstellung bringt.

So wie Flora und Fauna sich ihrer Umgebung anpassen, reagiert die Künstlerin auf die vorgefundene Raumsituation. Den architektonischen Strukturen der von Menschenhand geschaffenen Umgebung setzt sie die gewachsenen Strukturen der erfinderischen Natur entgegen. Die Makroaufnahmen einzelner Blätter eines Buschwerkes oder Baumes offenbaren ihre kraftvollen Lebensadern, die im selben Augenblick auch die Verletzlichkeit ihrer Oberfläche verraten. Ein Handgriff, und das fragile, über Jahrtausende entwickelte Konstrukt der natürlichen Entstehung ist zerstört. In Schruddes Mikrokosmos verwächst das eiserne Gebälk der architektonischen Umgebung optisch mit dem natürlichen Kleid der Pflanzen. Die Künstlerin implementiert mit ihren Arbeiten landschaftliche Weiten in die begrenzten Räumlichkeiten. Sie verschiebt damit die definierten Grenzen von Innen und Außen und setzt sie näher an die Seele der Dinge und des Betrachters. Gleich dem Rhythmus von Tag und Nacht erschafft die Düsseldorferin Skulpturen für die Dunkelheit. Wie Wolken, die den Horizont verdunkeln, verschattet die Künstlerin den Raum des Kunstvereins und schärft damit die Sinne des Menschen, der sich in ihrer nächtlichen Landschaft zurechtfinden muss; zu Hilfe kommt dabei die präzise Anordnung der Exponate. So wird eine Projektion nachtglitzernden Blattwerks zum Leitsystem für den Menschen, welches durch seine zentrale Positionierung als verbindendes Element beider Stockwerke fungiert. Durch die relativ hohe Platzierung des Exponates gleitet der Blick auf die nächste Ebene und gelockt von der dortigen Bewegung, erklimmt der Besucher eiserne Stufen hinauf in den ersten Stock.

Beim Beschreiten des dortigen Bodens aus metallenen Platten und Gitterrosten unterstreicht der hallend klingende Ton die mondgleiche Umgebung. Wie nach einem Meteoritenhagel liegen silbrig glänzende Gesteinsformationen unterschiedlicher Größe auf dem harten Untergrund. Vorsichtig werden die Schritte um die wie zufällig verstreuten Skulpturen gelenkt. Den Blick konzentriert nach unten gerichtet, verhält man sich dabei wie beim Wandern auf unebenem Grund. Der Weg endet kurz vor einer aufgeklappten, großen Leiter, die baumgleich in den Himmel des Ausstellungsraumes ragt. Auf den ersten Blick wie vergessen, dient sie nicht nur als Träger der multimedialen Technik. Vielmehr erweitert sie in ihrem eisernen Mantel die Installation um eine weitere Skulptur, die gleichzeitig den Schlusspunkt der Ausstellung markiert.

In Schruddes Arbeiten entwickeln sich unscheinbare Details zu wesentlichen Werkelementen. So verleiht eine mit anthrazitem Papier versiegelte Glasplatte ihrem Schattenwurf auf die gegenüberliegende Wand den Charakter einer Mondfinsternis, deren gleißender Rand durch das überstrahlende Licht des Beamers erzeugt wird. Die Motive treten in einen Dialog mit ihrer Umgebung, erweitern sie, fächern weitere Raumebenen auf und es entsteht eine Symbiose von realem Innenraum und artifizieller Natur.

In ihrer visuellen Anordnung thematisieren die Videoinstallationen zugleich den vielschichtigen Prozess des Erinnerns und des Vergessens. Wie im Speicher des Gehirns löst sich Stück für Stück erlebte Wirklichkeit auf, spaltet sich ab, wird autark und ist niemals in einem einzigen Bild zu fassen. Das Wiegen der Blätter im Video, deren filmische Bewegung aus der Aneinanderreihung von Einzelaufnahmen entsteht, gibt die natürliche Vorlage mit dem Blick der Künstlerin wieder. Dabei wird die gesamte Bildfläche gleichwertig behandelt. Kein Element sticht hervor, keine Stelle erfährt übermäßige Aufmerksamkeit. Durch die unterschiedliche Geschwindigkeit der Aufnahmen verschmelzen die einzelnen Blätter mit ihrem Hintergrund und dem Geäst. Sonnenstrahlen, die auf Tau- oder Regentropfen fallen, setzen lebendige Lichtreflexe, die an helle Pinselstriche in einem monochromen Gemälde erinnern. Nicola Schrudde schöpft für ihre Arbeiten aus den Rätseln der Natur. Organische Geometrie beschreibt die Suche nach den Grundprinzipien von Wachstum und Zeit und ihren Spuren in den Dingen. Die Künstlerin bietet damit einen Bezug zu Marcel Proust, der mit seinen virtuosen Beschreibungen zeigt, dass es keine vermeintliche Wirklichkeit oder Wahrheit gibt, sondern lediglich subjektive Wahrheitsvorstellungen, die einzigartige individuelle Mikrokosmen offenbaren. Für Nicola Schrudde stellt diese Annäherung an die Erscheinungen der Natur den einzigen Weg dar, das Mysterium der Dinge zu erleben ohne seinen Zauber zu zerbrechen..

Nadia Ismail M.A. (November 2008)

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